Ein kritischer Blick auf die Studienlage – Niels van de Roemer
Safer Sex ≠ sexuelle Selbstbestimmung – Warum die Natürliche Familienplanung kein Synonym für Verhütung ist
Frauen wünschen sich, selbstbestimmt, sicher und auf einfache, natürliche Weise darüber entscheiden zu können, wann sie schwanger werden. Und das möglichst ohne Nebenwirkungen. Mit smarten Technologien und Zugang zu transparenten Informationen zum Thema Fruchtbarkeit wird das möglich.
Als Frau selbstbestimmt, sicher und auf natürliche Weise ganz ohne Nebenwirkungen über den Zeitpunkt einer Schwangerschaft entscheiden zu können, schien lange Zeit unmöglich – oder unglaublich kompliziert. Heute ist das anders: Smarte Technologien und Zugang zu transparenten Informationen zum Thema Fruchtbarkeit erlauben Frauen jetzt, die Familienplanung proaktiv mitzugestalten – zu ihren Bedingungen und wenn sie soweit sind.
Natürliche Familienplanung im Wandel der Zeit
Die Familienplanung selbstbestimmt gestalten zu können, ist eine Voraussetzung dafür, dass Frauen sich voll ins gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben einbringen können.
Die Gesellschaft befindet sich in stetem Wandel: Rollenbilder werden neu geformt, die Frauenquote ist nicht länger nur eine utopische Theorie, Väter nehmen Elternzeit und Frauen erklimmen die Karriereleiter. Einer der Gründe hierfür ist sicherlich die Tatsache, dass Frauen die Familienplanung viel selbstbestimmter gestalten können, als vor einigen Jahr(zehnt)en. So wurde in den 60-Jahren nicht nur die „Pille“ eingeführt – eine wichtige Innovationen der Medizingeschichte – sondern auch die Frauenbewegung wurde immer stärker. Eine Frage des Timings: Schwangerschaften bewusst planen beziehungsweise verhindern zu können, verbesserte weltweit signifikant die Chancen von Frauen, einen hohen Bildungsgrad zu erreichen und im Beruf noch erfolgreicher zu sein. Gleichzeitig genossen Frauen mehr und mehr sexuelle Freiheit und konnten ihre Rolle in der Gesellschaft neu definieren. Dennoch zeigt sich in Umfragen, dass jetzt die Mehrheit der jungen Frauen ihren natürlichen Zyklus beibehalten möchte und die künstliche Steuerung mithilfe von Hormonen ablehnt1. Einer der Hauptgründe für diese „Pillenmüdigkeit“ ist die Angst vor möglichen Nebenwirkungen2.
Wie wird Natürliche Familienplanung (NFP) definiert?
Natürliche Familienplanung (NFP) besteht aus der genauen Erkennung des fruchtbaren Fensters im Zyklus und der daraus resultierenden Entscheidung: enthaltsam leben, verhüten oder eine Schwangerschaft zulassen? Der Körper sendet diverse Signale aus, die verraten, welches Stadium im Monatszyklus gerade erreicht wurde. Die fruchtbaren Tage sind bei Kenntnis dieser Körperzeichen leicht zu erkennen. Eine Frau, die sich mit NFP auskennt, weiß, wann genau sie fruchtbar ist – die Entscheidung, was sie während dieser durchschnittlich sechs Tage im Zyklus tut, liegt bei ihr. Gut zu wissen: Vor und nach den fruchtbaren Tagen ist eine Empfängnis nicht möglich.
Die eigenen Körperzeichen und die fruchtbaren und unfruchtbaren Tage zu kennen, ist allerdings auch für viele Frauen interessant, die gerade nicht sexuell aktiv oder bereits in der Perimenopause sind.
Gebot der Stunde: Frauen natürliche Alternativen nahebringen
Zuverlässige Alternativen zur hormonellen Empfängnisverhütung zu nutzen, interessiert immer mehr Frauen – sie informieren sich über die traditionellen Methoden der Natürlichen Familienplanung. In einer repräsentativen Umfrage betonte jede fünfte Teilnehmerin, sich schon mindestens einmal mit den natürlichen Alternativen zur Familienplanung auseinandergesetzt zu haben3. Der Vorteil der traditionellen Methoden ist, dass sie das gesamte Spektrum der Möglichkeiten abdecken – Paare mit Kinderwunsch können sie ebenso nutzen wie Paare, die eine Schwangerschaft verhindert bzw. aufschieben wollen. Allerdings haben einige traditionelle Methoden den Nachteil, zeitaufwändig, kompliziert umzusetzen und fehleranfällig zu sein 4,5.
In den letzten 30 Jahren kam der Brauch aus der Mode, fruchtbare und unfruchtbare Tage zu berechnen und mit Zettel und Stift festzuhalten. Stattdessen hielten zunehmend digitale Technologien in der Natürlichen Familienplanung Einzug und mit ihrer Hilfe werden die direkten wie indirekten Körperzeichen für die Fruchtbarkeit sowohl erkannt als auch evaluiert 6,7. Seit 2010 hat sich zudem ein riesiger Markt an (mehr oder weniger vertrauenswürdigen) Fertility-Tracking-Apps (FTAs) für Smartphones entwickelt. Download-Statistiken zeigen, dass das Interesse junger Frauen an der eigenen Fruchtbarkeit noch viel größer ist, als Umfragen widerspiegeln.
Wachsende Anforderungen an digitale Angebote
Angesichts des rapide wachsenden Marktes der FTAs wird nun auch der Ruf nach Regulation, Überprüfung und Evaluation der Anwenderinnensicherheit dieser Apps beziehungsweise Devices lauter. Die wissenschaftliche Literatur zeigt, dass bisher sehr wenige FTA-Algorithmen dafür geeignet sind, eine Schwangerschaft zu verhindern. Nur wenige FTAs haben unabhängige, klinische Studien durchlaufen8,9. Eine Studie zeigt auf, dass die sogenannten Prognose-Apps besonders unzuverlässig darin sind, den Zeitpunkt des Eisprungs zu bestimmen. Denn viele gehen von einem Zyklus von genau 28 Tagen aus und davon, dass die Ovulation genau in der Mitte stattfindet. Doch 85 Prozent aller weiblichen Zyklen sind nicht 28 Tage lang, sondern kürzer oder länger20. Es gibt Unterschiede von Frau zu Frau, im Laufe des Lebens kommt es zudem natürlicherweise zu Schwankungen. Auch Schichtarbeit, Stress und Erkrankungen können dazu führen, dass der Eisprung sich verschiebt. Manchmal setzt die Ovulation auch ohne äußeren Anlass früher oder später ein als erwartet. Darum zieht das Berechnen der fruchtbaren Tage mit hilfe von Prognose-Apps oft Fehlinterpretationen der Nutzerinnen nach sich10.
Das Problem der Standardisierbarkeit
Schon in den 50-er Jahren des letzten Jahrhunderts entwickelten der Amerikaner Dr. Edward Keefe und der Österreicher Prof. Dr. Josef Rötzer die Multiple-Index-Methode, auch bekannt als symptothermale Methode (STM). Im Jahr 1971 begann Dr. Konald Prem, gemeinsam mit John and Sheila Kippley ein Netzwerk aus Paaren aufzubauen, die die STM unterrichten konnten (ihr NFP-Netzwerk nannten sie Couple to Couple League). Diese traditionellen Methoden wurden seit 1981 in der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf erforscht und hinterfragt. Weil ihnen keine Alternativen dazu einfielen, legten die zuständigen Ärzte damals fest, dass die traditionellen Methoden dieselben Standards in Bezug auf die Sicherheit der Anwendung erfüllen sollten wie pharmakologisch wirksame Substanzen oder Implantate 11-13. Dieser Vergleich musste zu Ungunsten der natürlichen Familienplanung ausgehen – denn es ist offensichtlich, dass eine nicht-invasive Methode, die den Eisprung weder beeinflusst noch unterdrückt, nicht demselben Standard genügen kann wie zum Beispiel die Pille oder Spirale. Ein aktueller systematischer Review aus Studien der letzten 40 Jahre kommt daher wenig überraschend auch zum Schluss, dass die bisherigen Studien zur Effektivität und Sicherheit der Natürlichen Familienplanung wenig vergleichbar miteinander und zudem oft von minderer Qualität sind14.
Ein weiteres Problem: Studienergebnisse im Wandel der Zeit
Für die frühen Studien zur Sicherheit der NFP-Anwendung wurden Teilnehmerinnen rekrutiert, die individuell begleitet wurden und ein mehrtägiges Training zur NFP absolvieren mussten15. Alle frühen Daten zur Sicherheit der NFP waren also von Teilnehmerinnen generiert worden, die von qualifizierten NFP-Trainern mit der Methode vertraut gemacht worden waren. Das Problem heute ist: Verkaufs- und Download-Daten legen nahe, dass 98% aller aktuellen NFP-Nutzerinnen niemals einen Kurs besucht haben. Es ist nicht bekannt, welche Quellen des autonomen Lernens sie genutzt haben oder wie genau sie die Methoden anwenden. Außerdem wurde mit der Einführung der “Pille danach“ ein Weg geschaffen, bei einem Anwendungsfehler zu intervenieren und – falls es zur ungeplanten Empfängnis kommen könnte – die Einnistung der befruchteten Eizelle doch noch zu verhindern. Seitdem die “Pille danach” auch ohne Frauenarztbesuch in der Apotheke erhältlich ist – seit 2014 –, sind die Verkaufszahlen, zu den Vorjahren um 70% gestiegen. Daher gibt es auch keine zuverlässigen aktuellen Studien, die aufzeigen, in wie vielen Fällen es infolge der NFP zu ungeplanten Schwangerschaften gekommen ist. Die grundsätzlichen Erfordernisse für eine statistische Kalkulation der Anwenderinnensicherheit gemäß früherer Standards sind nicht länger gegeben. Last but not least: Studien zur NFP enthalten keine Informationen über den Beziehungsstatus sowie die Fertilität/Subfertilität der Teilnehmerinnen und ihrer Partner.
In der Vergangenheit galt der Pearl-Index (1933 benannt nach dem amerikanischen Wissenschaftler Raymond Pearl) als geeignete Maßeinheit, um die Sicherheit von Verhütungsmethoden zu bestimmen. Je niedriger der Pearl-Index, desto sicherer die Verhütungsmethode. Wenn 100 Frauen dieselbe Verhütungsmethode ein Jahr anwenden und drei davon ungeplant schwanger werden, liegt der Pearl-Index bei 3. Ein Pearl-Index von 0,1 bedeutet: Nur 1 von 1000 Frauen, die diese Verhütungsmethode ein Jahr lang anwenden, wird in diesem Zeitraum schwanger16.
Obwohl früh feststand, dass der Pearl-Index enorme Schwächen hat16, wird er auch heute noch in allen bekannten medizinischen Broschüren, Gesundheitsmagazinen, Internetportalen etc. verwendet. Hierbei wird die Tatsache ignoriert, dass bei Ermittlung des Pearl-Index wichtige Faktoren keine Rolle spielen, wie zum Beispiel: die Anzahl der Teilnehmerinnen einer Studie, das Alter der Teilnehmerinnen, die Frequenz des Geschlechtsverkehrs, ob eingesetzte Verhütungsmethoden korrekt angewandt wurden. All das trägt jedoch dazu bei, ob eine ungewollte Schwangerschaft verhindert werden kann oder eben nicht.
Der Pearl-Index kann aus vielerlei Quellen und Studien berechnet werden, und unterschiedlichen Berechnungen zu einer Methode liegen oft nicht dieselben Bedingungen zugrunde19. Doch exakt das sollte eine korrekte wissenschaftliche Annäherung an ein Thema auszeichnen: Dass Ergebnisse, die in die Berechnung einfließen, miteinander vergleichbar sind.
Eine Methode ist kein Verhütungsmittel!
Wie schon erwähnt, zeigen die Erfahrungen aus der Vergangenheit, dass es unmöglich ist, mit der natürlichen Familienplanung dieselben Wirkungen wie mit pharmakologisch wirksamen Substanzen oder Implantaten zu erreichen. NFP als Methode erlaubt lediglich die Bestimmung der Tage, an denen die Anwenderin fruchtbar ist. Eine Methode ist kein Verhütungsmittel, sie verhindert keine Empfängnis während der fruchtbaren Tage.
Die Lösung für dieses Dilemma bietet eine Anpassung der Standards – jeder Standard muss an die jeweilige Methode angepasst sein. Smarte Lösungen wie Fertility-Tracker berechnen die fruchtbaren und unfruchtbaren Tage einer Frau individuell, basierend auf den täglichen Messungen der basalen Körpertemperatur und der Ermittlung des zyklisch wiederkehrenden fruchtbaren Fensters. Eine logische, transparente und vergleichbare Aussage über einen Fertility-Tracker kann darum zum Beispiel sein, wie genau das Gerät jene Aufgabe erfüllt, für die es entwickelt wurde. Nicht mehr, aber auch nicht weniger. Mit einem solchen wissenschaftlich belegten Statement über die Genauigkeit einer Methode bekommen Frauen eine Information und können, darauf basierend, eine selbstbestimmte Entscheidung treffen. Es liegt an ihnen, ob sie während der fruchtbaren Tage enthaltsam leben, verhüten (z. B. Barrieremethode, „Safer Sex“) oder eine Empfängnis zulassen.
Ein solches Statement darüber, wie der Fertility-Tracker unfruchtbare Tage im Zyklus erkennt, ist komplett unabhängig vom Faktor Mensch – vom Alter der Nutzerin, ihrem Beziehungsstatus, der Häufigkeit des Geschlechtsverkehrs, dem Gebrauch zusätzlicher nicht-hormoneller Verhütungsmittel oder der Zeugungsfähigkeit des Partners. Solch ein Statement zur Genauigkeit ist maximal spezifisch und transparent, keine „generelle Orientierungsrichtlinie“ wie der Pearl-Index. Das Wichtigste jedoch: Das Statement zu jedem Fertility-Tracker kann reproduziert und mit anderen Statements zu anderen Methoden und Devices direkt verglichen werden.
Vor dem Hintergrund der immer schneller voranschreitenden Digitalisierung der traditionellen Methoden der Familienplanung ist es dringend notwendig, veraltete Standards zu ersetzen und Frauen stattdessen transparente und genaue Informationen anzubieten.
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